Frauen und auch Männer, die von Ehrgewalt betroffen sind, ringen damit, sich im umfassenden patriarchalen Wertesystem ihres sozialen Umfelds Raum für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung zu schaffen. Oft sind sie in einem Milieu aufgewachsen, das extrem auf die Familie und die Community ausgerichtet ist. Ein Leben jenseits der Geborgenheit der Familie gilt als einsam und haltlos. Menschen, die nicht diesem vertrauten Umfeld angehören, gelten als fremd und wenig vertrauenswürdig, ihren Werten und Lebensstilen wird oft mit Vorbehalten begegnet. Die Anforderung, die „Ehre“ der Familie mit dem eigenen Verhalten aufrechtzuerhalten, bestimmt das Leben ihrer Mitglieder und regelt die Beziehung zwischen den Generationen und Geschlechtern. „Ehrenhaftes“ Verhalten soll das patriarchal strukturierte Familiensystem fest zusammenhalten: Das Ansehen der Familie ist wichtiger als die individuelle Entfaltung.
Viele Betroffene haben diese Normen zum Teil verinnerlicht, geraten aber im Laufe ihrer Identitätsentwicklung in Konflikt damit und fühlen sich zwischen der Loyalität zu ihrer Familie, der Angst, ihren Rückhalt zu verlieren, und ihrem Autonomiestreben hin- und hergerissen. Hinzu kommen die Tabuisierung von familiärer Gewalt, Scham und auch die Angst vor Stigmatisierung innerhalb und außerhalb der Community.